Das Leben im Anderen

Der (unerfüllt) Liebende realisiert die Veräußerung des geliebten Subjekts. Er verfolgt seltene Gedanken auf der Suche nach Rettung. Er erkennt die Sehnsucht des ungeliebten Wesens danach etwas fühlen zu können. Er nimmt die notorischen Gesten und Haltungen des geliebten Subjekts an, um ihr dahingehend in sich selbst eine Wohnstatt zu geben (in dem Traumbild, in der Imagination). Er bildet sich hierbei ein, dass sein geliebtes Subjekt in ihm an seiner Seite ist (wenn sie will) und versucht eine möglichst wirklichkeitsgetreue Kopie in seiner Imagination zu konstruieren. Dies bedeutet auch, dass dieses imaginäre Bild des geliebten Subjekts genauso eigensinnig sein muss wie das Original. Er teilt hier auf filigrane Weise sein Denken in eine parallel laufende Ebene die damit beschäftigt ist, abzugleichen dass das imaginäre geliebte Subjekt in ihm auf die Situationen adequat reagiert. Er empfindet ein Gefühl der Geborgenheit, Heimat und des Geliebt Seins wenn er dann starke Gefühle empfindet in dem Wissen, dass das geliebte Subjekt bei ihm ist und dies auch mitempfinden kann, wenn er beispielsweise durch medialen Konsum (berührende Musik, dramatische Filme) zu weinen anfängt, oder etwas starke Gefühle in ihm auslöst. Das geliebte Subjekt als „Ungeliebtes Wesen“ welches aufgrund vieler Enttäuschungen in der Leere (Gefühlsleere) beheimatet ist, erhält so (aus seiner Sicht) durch ihn die Möglichkeit, durch ihn zu fühlen und Emotionen zu empfinden. Er empfindet natürlich dennoch finale Enttäuschungen, denn die Imagination erhält immer wieder Brüche, wenn er sich über die Realität klar wird (es passiert in seiner Einbildung).

Er erteilt diesem Vorgang seine explizite Erlaubis. Dieser Ablauf wird beispielsweise in dem Film „Psycho“ abgebildet, in der Situation in welcher Norman Bates seine verstorbene Mutter in sich selbst nachspielt (Imagination). Auch in der Serie „Twin Peaks“ ist eine der zentralen Ziele der Antagonisten (Magier) das Leben bzw. Übernahme von Laura Palmer durch eine solche psychologische Besetzung. In dem Film „Possession“ konstruieren die beiden Protagonisten in ihrer Traumwelt jeweils ein perfektes (optimiertes) Bildnis des Anderen (wie sie sich den anderen vorstellen damit die Beziehungen endlich funktionieren kann). Es ist wie diese typische Weihnachtsgeschichte, wo jeder dem anderen das schenkt, was er denkt, dass der andere gerne möchte; am Ende haben so beide ein unpassendes Geschenk erhalten (jeweils so wie man sich den anderen vorgestellt hat, was man denkt dass er gerne möchte). Bei dem Film „Possession“ ist es jedoch so, dass jeder seinen Wunschpartner konstruiert. Der Mann wünscht sich seine Frau umgänglicher, einlenkender auf seine Wünsche (schwach, im Sinne von ihm untergeordnet). Die Frau wünscht sich ihren Mann impulsiver, nicht so weinerlich (stark, im Sinne von ihr verdientermaßen übergeordnet). Es erinnert an das Anna-Karenina-Prinzip und diese Thematik. Der Film endet mit der Situation wo die beiden Imaginationen kurz davor stehen aufeinander zu treffen. In diesem Text hier geht es aber nicht um die Konstruktion des Wunschpartners, denn der Liebende möchte hier (in diesem Beispiel) das geliebte Wesen (mit seiner Eigenart), möglichst wirklichkeitsgetreu abbilden (auch wenn er abgewiesen wurde und auch weiterhin abgewiesen wird). Eine ungewöhnliche Tätigkeit, die an sich ohnehin von der Gesellschaft pathologisiert wird. Wenn er dies einem anderen Menschen erzählt, ist ihm eine Abweisung gewiss. Man wird ihn als krank oder besessen einschätzen (der Unglückliche, der hoffnungslose Fall), jedoch auf jeden Fall wird seine Thematik als völlig irrelevant für einen Diskurs eingeschätzt. In unserer Welt der Technik, der Prozesse, der Naturwissenschaften scheint es vielen Menschen als völlig obskur sich mit solchen Themen überhaupt nur auseinanderzusetzen. Das Ungewöhnliche wird von der Norm immer erst mal pathologisiert, in diesem Falle wird es jedoch einfach komplett ignoriert. Es gibt keine „Erleuchtungsschule“ oder ähnliches die auf positive und konstruktive Weise mit dieser Thematik umgeht, denn es gibt keine (oder kaum Interessenten) die diese Thematik gerne besprechen würden (Roland Barthes als Ausnahme außen vor gelassen). Wir werden kaum zwei Menschen finden, die eine solche Imagination haben und sich beispielsweise in einem Forum darüber austauschen (daher meine Aussage, dass die Thematik keinen Diskurs hat). In der Kunst und Musik ist dies jedoch durchaus sehr präsent. Gerade die junge Internet-Generation erhält hier ettliche Vorlagen die sich künstlerisch damit auseinandersetzen (thematisch ähnlich wäre beispielsweise das Musikvideo „Hostage“ von Billie Eilish). Aber weiter im Kontext: es ist auch nicht außer Acht zu lassen, dass das reale geliebte Subjekt dem Liebenden mit Abneigung, Angst und Unverständnis begegnet, wenn dieses (seltsame) Verhalten offensichtlich wird. Es ist insofern auch ein Risiko oder eine Spannung mit im „Spiel“, denn der Liebende empfindet die Dissonanz, dass sein Traumbild bei seinem geliebten Subjekt auf starke Abneigung stoßen könnte (was ja auch völlig nachvollziehbar ist). Oder aber, die Trauer dass er mit einem Schatten interagiert hat und seine Verrücktheit auch in seinen eigenen Augen offensichtlich wird. Er erkennt, dass er in sich selbst das kompensiert, was ihm in der echten Welt nicht zugänglich ist. Das Traumbild lässt den Liebenden stumpf gegenüber dem Kontakt zu anderen Menschen werden, wenn er nicht davon ablassen mag. Ohne es zu merken, wird er sich heimatlich einrichten und den Kontakt mit solchen Menschen scheuen, die ihn davon abbringen würden vom Traumbild abzulassen.

Die finale Schuld-Situation wird von ihm bestmöglich ausgeblendet, da sie traumatisch für ihn ist. Das traumatisierende ist, dass er im echten Leben das geliebte Subjekt im Stich lässt.

Die überbordende Einbildung ist hierbei stark genug, die Handlungen des Liebenden selbst irgendwann mitzubestimmen. In der Psychologie wird dies z.B. als „False Self“ bezeichnet. In dem Roman „Seelen (Stephenie Meyer)“ findet sich ein unterhaltsames Beispiel dafür, wie zwei Wesen in der Imagination über die Kontrolle des Körpers verhandeln und hierbei interagieren.

Ebenfalls relevant ist hier das „Trauma-Bonding“ (wie auch bei „False Self“ ein Begriff aus dem einschlägigen Bereich zu Persönlichkeitsstörungen), welches die Basis dafür schafft, dass eine solche Situation stattfindet. Trauma-Bonding in diesem Sinn, bedeutet, dass traumatische Situationen mit dem geliebten Subjekt die Basis für diese Imagination legen, denn schmerzhafte Erlebnisse werden vom Gedächtnis in gewisser Weise besser abgespeichert. Schmerzvolles ist von Wichtigkeit und prägt sich in die Erinnerung ein und steht somit auch besser dafür bereit für die Konstruktion der Imagination abgerufen zu werden. Dieses Trauma-Bonding kann dann sogar dafür sorgen, dass der Liebende seine eigenen Veräußerungen negiert oder aktiv aufgibt (self-defeating behavior) weil er der Einbildung des geliebten Subjekts in seiner Imagination gerecht werden will. In Abwesenheit des geliebten Subjekts tritt es verstärkt zu Tage, wenn auf Grund einer starken Kränkung oder ähnlichen Situation kein richtiger Abschluss gefunden werden konnte.

Jedoch ist auch der Aspekt der Individuation hier wichtig. Der Liebende hat offenbar ein ungeöffnetes Potential (Anima), welches durch diese Begegnung eine Wirklichkeit (Entflammung) erhält. Das was ihm sonst nicht zugänglich ist (beispielsweise die weibliche Seite für einen Mann, der diese stark verdrängt), kann durch diese Art von Besessenheit in ihm einen inneren Dialog aufbauen und ihn in die Lage versetzen, verdrängtes zu Tage zu bringen. Das was sonst keinen Sinn machen würde (das Reden, oder die Auseinandersetzung mit einer Traumfigur), erhält erst durch die Begegnung mit dem geliebten Subjekt im echten Leben eine Realität (eine Möglichkeit zum Sinn). Der Liebende wird Scham oder Selbsthass empfinden, wenn er erkennt, dass das Geliebte Wesen in gewisser Weise ein „Proxy“ (ein Überbrücker) für ihn ist, um mit dem in Berührung kommen zu können, was er in sich verdrängt oder dem er keinen Platz in seinem Leben gibt (siehe auch: was über „Lilith“ und Schattenarbeit im esoterischen Bereich gesagt und geschrieben wird. Beispielsweise vom Tarot-Experten „Akron“). Ganz interessant wird es dann, wenn er zudem noch ein weiteres „False Self“ in sich trägt. Die Spezialsituation wäre hier dann, dass er sich völlig ausblendet und darauf hofft, dass die beiden False Self (er als False Self und sein imaginäres geliebtes Subjekt als Gegenüber) in der Phantasie glücklich miteinander werden. Es fühlt sich gut für ihn an, doch bewegt sich an sich von einem realen gesunden Kontakt mit dem echten geliebten Wesen in der realen Welt weg, dass es ihn zwischen zwei Stühlen stehen lässt (zwischen den beiden sicheren Häfen, direkt im Ungewissen, Einsamen). Paradoxerweise fühlt er sich genau in dieser Situation wieder mit dem realen geliebten Subjekt verbunden, da genau dies die Ungeliebt-Situation auch mit charakterisiert („ich fühle ähnlich wie du, ich kann vielleicht durch den Schmerz lernen dich nicht in diese Situation zu bringen, es nicht mehr falsch zu machen“).

Es ist ähnlich wie mit der internen Mutter/Vater-Repräsentation. Diese Imagination kennt jeder Mensch, denn es ist bekannt dass man auch später noch im Erwachsenenalter seine Eltern in Gedanken parat hat. In kritischen Situationen hört man in sich z.B. die typischen Sätze, die von Vater oder Mutter gesagt werden, wenn sie dem Kind früher Ratschläge gegeben haben, wie es sich richtig zu verhalten hat um Situationen zu meistern. Ein „Trauma Bonding“ mit einem geliebten Subjekt kann diese Situation herausfordern und wird beispielsweise von Menschen die besonders stark von dem Kontakt mit den Eltern geprägt sind, dann als bedrohlich wahrgenommen, oder als hilfreich da es einen „purging“-Effekt aufweist, der eine Möglichkeit zur Erweiterung des kaum zu öffnenden internen Kosmos bietet (Menschen mit solchen Eltern-Kontakten sind oft nicht in der Lage anderweitig Liebesbeziehungen aufzunehmen, da dies im Weg steht). Ob es dann noch lustig ist, wenn man plötzlich mehrere interne Imaginationen hat, die im Dialog miteinander sind, kann sich der Leser überlegen. Da man als „Host“ dann ja eher außen vor ist und sozusagen in der „Gastgeber“-Position geht es an sich schon klar, denke ich. Bestenfalls dann wie ein lustiger Anime, in welchem ein Junge in einem Haus voller Mädels aufwacht und dort dann miteingebunden wird. bzw. überall bevormundert und mitgezerrt wird, in die Kapriolen der verschiedenen Mädels (Love Hina).

Relevant zu diesem Text hier ist auch die Retten/Ungeliebt-Dynamik die in den Emotionsfeldern beschrieben wird (Kapitel „Ursprung“ oben im Menü).

Der Kontakt als solches kann pathologisiert werden und mit den üblichen Begriffen (Borderline, NPD, …) der Pathologie betrachtet werden, jedoch ist hier der Wert insbesondere auf dem transformativen Aspekt gegeben, der ebenso etwas schamanisches bzw. disruptives bewirken kann, welches festgefahrene Zustände ins Wanken bringt. Siehe hierzu für eine alternative Sichtweise z.B. auch das Buch „Robert Pfaller – Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft“ welches hier auch Schlaglichter darauf wirft, wie heiliges in unserer modernen Welt zunehmend abgewertet, pathologisiert wird. Der Blick der Vernunft möchte Entzaubern, verliert hierbei jedoch das Gesamtheitliche aus dem Blick. Denn in einer an sich kranken Welt (unsere Welt ist krank, an vielen Stellen. Sei es im unnatürlichen Arbeitsleben als auch in unserem Umgang mit der Umwelt oder unseren Mitmenschen), sind disruptive Kräfte näher am eigentlich Gesunden (suchen nach der Gesundung), als das Normativ (welches sich im Kranken eingerichtet hat). Es ist letzlich eine Definitionssache.

Ein Gedanke zu „Das Leben im Anderen“

  1. Diser Text ist bis jetzt am stärksten, da ich mich darin selbst finde. Durch die Möglichkeit von luzides träumen, kann ich beispielsweis mit meiner Traumfrau zusammen sein, ohne je im realen Leben, wirklich eine richtige Beziehung zu haben. Doch manchmal sind es auch reale Verbindungen, die von ihr ausgehen, denke dies zumindest, Schwingungen zu empfangen, die mir ihre Trauer und gleichzeitig Wut spüren lässt. Auch ohne luzides Träumen, höre ich sie manchmal schreien, total gestört, ha! Aber solche Dinge gibt es wirklich, hatte dies selbst mit meiner Mutter extrem, owohl ich sie gehasst und gleichzeitig geliebt habe. Noch kurz vor ihrem Tod, hatten wir beide auf einer unnatürlichen Art kommuniziert, vermutlich so, wie es in der Tierwelt auch vorkommt, sozusagen mit weiteren Sinnen geschärft. Ich habe früher auch viel geschrieben und dann noch von Hand, ist aber lange lange her, nach meiner Trennung vorallem. Wurde aber alles verbrannt, um mich freizumachen. Heute schreibe mit MS Word, wenn mich etwas beschäftigt, behalte es für eine gewisse Zeit und danach verschwindet dies auch ins Nirvana. Aber so hilft es mir, Themen zu bearbeiten, die selbst mein Therapeut nie zu hören bekommen wird. Am liebsten würde ich alle Texte hier aufeinmal lesen, doch dann käme es zu einem Überfordern. Dies ist ein Genuss und sollte im richtigen Moment eingefordert werden. Also icht erschrecken, wenn ich eventuell noch zu weiteren Texten meinen Kommentar hinterlasse! 😉

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