Der Schrei

Ich ging alleine durch den Park der Stadt, abseits von Menschen um die Sonne zu genießen. Als ich kurz davor war, aus einer der kleineren Parkanlagen wieder an die Uferpromenade der Stadt zu gelangen, ging eine junge Frau an mir vorüber und hielt mich an. Ich war an diesem Tag in einer Stimmung, die man beschaulich oder auch somnambul nennen könnte, daher musterte ich sie aufmerksam und war traurig über ihre demütige Statur und die bedürftige Weise auf die sie mich ansprach. Sie hielt mich hierbei zuerst mit einem “Entschuldigung?” an und sprach dann los: “könnten sie mir bitte helfen, ich weiß nicht mehr weiter. Ich habe ein Kind und weiß nicht an wen ich mich wenden soll. Haben Sie mir bitte etwas Geld. Es ist so viel zu bezahlen über den Monat. Es ist so demütigend, dass ich mich an sie wenden muss. Sie sind der erste Mensch der heute anhält und mir zuhört. Ich weiß nicht wie ich das alles nur schaffen soll…“. Ich hörte dabei nicht auf, ihr in die Augen zu blicken und sie sprach mit einer monotonen, leeren Stimme, als würde sie ein Programm abspielen oder einen auswendig gelernten Reim, doch die Worten taten mir weh. Ich hatte das Gefühl, als ob sie genau darauf achten würde, wie ich die Worte aufnehme und als ob sie, wie ein präziser Automat, einschätzen würde was sie als nächstes sagen müsste. Ich hasste mich dafür, dass ich ihr dies unterstellte und sie dadurch abwertete, denn ich schätzte es, dass sie sich die Mühe gab für mich eine Geschichte zu erfinden; denn ich war doch einsam. Ich wusste, dass es nur eine erfundene Geschichte ist, aber meine Sympathie für ausgestoßene Frauen (wie auch immer man dies nennen kann) machte mich zu einer leichten Beute. Sie war wohl von südosteuroäischer Herkunft. Ich fühlte mich unvermittelt an Geschichten über Vampire erinnert. Auf absurde Weise spielte meine ausschweifende Phantasie durch diesen äußeren Reiz ein Spiel mit mir, als wäre ich befangen von meinen eigenen Wunschvorstellungen und Träumereien. Auch sie blickte mit diesen leeren, braunen Augen zurück. Ihre schwarzen Haare waren ein wenig zerzaust und zu einem Dutt gebunden. Ihr Gesicht machte den Eindruck, als wäre es leicht verschmutzt. Ich sagte nur kurz “Ja, also ich weiß nicht. Natürlich…“. Als die Worte auf das Geld kamen, war ich froh über diesen Ausweg, denn ich hatte Angst vor ihr und Geld war hier ein Ausweg aus dieser verfänglichen Situation mit der ich helfen konnte und doch nicht das Gefühl haben brauchte, gar nichts getan zu haben. Ich war mir sofort darüber bewusst, dass das Geld sicher nicht für ihren Eigenbedarf übrig sein wird. Es wird ihr sicher abgenommen werden durch die Bande, die dort sicher im Hintergrund agiert. Traurig gab ich ihr nur 5 Euro, denn alles andere schien mir nicht sicher, wegen der Situation. Viel zu wenig (oder zu viel?), aber es war hoffnungslos. Als ich ihr das Geld gab, konnte ich nicht anders als sofort zum Schritt anzusetzen und zu gehen. Sie sprach mir so hinterher, dass es mir im Gedächtnis verblieb: “aber geh doch nicht weg!” und Sie betonte die Worte wirklich auf eine solche Weise, als hätte sie Hoffnungen in mich gehabt und dass mein Gehen sie traurig machte, als wäre ich liebenswert und als hätte ich Sie nicht so gesehen, wie sie wirklich ist. Wie traurig. Was wollte Sie denn noch? War es nicht genug, dass sie die 5 Euro bekommen hatte? Wollte sie mehr? Das konnte ihrem Bettlertrick doch nicht zuträglich sein, mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Man konnte es nicht wissen. Aber diese Mischung aus offensichtlichem Leid, meiner Sympathie für eine junge Frau in Not und der ausweglosen Situation brachte es so hervor. Trotzdem bleibt mir dieser leidvolle Kontakt in Erinnerung, obwohl es vermutlich nur eine gespielte Masche war, denn Leid wird im Gehirn so rezipiert, dass es im Gedächtnis verbleibt, als wichtige Lehre oder Vermerk, eine Erfahrung. Ich wünschte so sehr, dass diese verwahrloste junge Frau frei sein darf. Aber zum Glück war sie kalt. Man musste so sein, um gut betteln zu können und als ich mich umblickte, sah ich, wie sie ganz normalen Schrittes weiterging. Es war eine gewöhnliche Situation für sie gewesen, so glaube ich. Was ist das alles für eine Welt und wieso war diese Situation realer und bedeutungsvoller für mich als die ganzen lächelnden oder pompös stolzierenden Gecken mit ihren kleinen Hündchen, die beschaulich an der Uferpromenade durch die Sonne stolzierten. Wieso ist mir Wahrheit und Wert in solch schmerzvollen Situationen gegeben? Vor dem Ereignis war ich doch glücklich und nun bin ich traurig. Ist es wie Nietzsche sagt, als er meinte, man müsse das Betteln verbieten, denn egal ob man hilft oder nicht: man ist unglücklich. Eine Stunde vorher war ich wütend auf eine alte Oma die einem trickbetrügerischen Bettler (es gibt nur diesen einen in der Stadt), der immer den buckligen spielt und humpelt, Geld gegeben hat. Ich dachte: wie kann man nur so naiv sein. Und schon hatte ich meinen Meister gefunden. Es ist schwer damit zurecht zu kommen, dass die Menschen denen man begegnet immer eine Mischung aus so vielen Zutaten sind. Die Menschen sind Ganoven und Heilige. Diese junge Frau hat viel mehr Potential. Ich muss Addressen von Hilfsstellen in meiner Stadt auswendig lernen, dann kann ich das nächste Mal zumindest helfen. Aber ich glaube, ich habe diese junge Frau schon öfter betteln gesehen. Sie weiß bestimmt ohnehin Bescheid. Und der Leser weiß nun, wie schnell ich mich in Alltagssituationen verfange. Durch das Niederschreiben fühlt sich das Erlebte verordnet und abgelegt an und doch schreien irgendwo zwischen den Ritzen der Glocke die unerlösten Stimmen der Unverständnis. Die Wahrheit schreit, verkannt und weggelegt, in irgend einer Ecke der Verordnung. Vergraben unter Nachkorrekturen und Schriftwerk. So in etwa wie auf einem der Gemälde von Munch. Der Himmel ist stahlblau und die Sonne scheint sanftmütig. Es herrscht eine leichte Kühle, die das Erlebte beschwichtigt.

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